In Zeiten von „Too much information“ ist der Begriff „Lagom“ wie ein wohltuendes Glas stilles Wasser. Ein schwedischer Begriff, der in seiner Einfachheit den ewigen Kampf zwischen Genuss und Mäßigung auflöst. Denken wir an Aristoteles und seine goldene Mitte – Lagom ist seine skandinavische Schwester. Was Lagom nicht ist: eine rigide Philosophie des Verzichts. Stattdessen: eine Einladung zum überlegten Leben. Schwedische Schokoladenkuchen #kladdkaka, verzehrt in Maßen, und die Abwesenheit von übermäßigem Konsum sind keine Askese, sondern Kunst.

Die Frage ist:Wie viel genügt?

Mittelmaß. In Deutschland klingt das nach Langeweile. Es klingt nach Kompromiss, nach Mangel an Ehrgeiz. Doch „Lagom“, das schwedische Äquivalent, ist vielschichtiger. Es geht nicht darum, sich mit weniger zufrieden zu geben, sondern das Richtige zu finden. Und das Richtige liegt nicht in Extremen. Die Kultur des „immer mehr“ führt oft in Sackgassen. „Lagom“ schlägt einen anderen Weg vor: Den, auf dem das Maß das Ziel ist.

Lagom verlangt keine radikalen Schnitte, sondern kluge Entscheidungen. Es ist ein praktischer Ansatz, der uns hilft, den Alltag zu entwirren. Nehmen wir den Arbeitsplatz: Ein Schreibtisch, der nicht überladen ist, sondern nur die wichtigsten Werkzeuge bereithält. Ein Meeting, das nicht unnötig in die Länge gezogen wird, sondern genau so lange dauert, wie nötig. Nicht länger. Hier zeigt sich, dass Maßhalten mehr Freiraum für das Wesentliche schafft.

Bewusst leben, bewusst wählen

„Lagom“ im Alltag

Der größte Wert von „Lagom“ zeigt sich im persönlichen Leben. Es ist ein Balanceakt, der uns hilft, das Gleichgewicht zwischen Arbeit und Freizeit, Digitalem und Analogem zu finden.

Lagom lässt sich auf alle Lebensbereiche übertragen. Beginnen wir in der Küche: Warum den Kühlschrank überladen, wenn auch weniger für die ganze Woche reicht? Man kauft, was gebraucht wird, isst ausgewogen und hält Maß. Nicht jeden Tag muss ein Fünf-Gänge-Menü auf dem Tisch stehen. Auch beim Abschmecken gilt es, die perfekte Balance zu finden – weder zu viel noch zu wenig, sondern genau das richtige Maß an Würze. Ein Beispiel ist „Fredagsmys“, der schwedische Freitagabend, an dem man sich mit Snacks und Familie auf das Wochenende einstimmt. Kein Festmahl, sondern bewusster, geselliger Genuss.

Im Zuhause zeigt sich Lagom in der Gestaltung. Schlicht, aber nicht leer. Möbel von hoher Qualität und minimalistischem Design, oft funktional, immer langlebig. Jeder Gegenstand hat seinen Platz, nichts ist überflüssig. Es geht nicht darum, auf Komfort zu verzichten, sondern ihn auf das Wesentliche zu reduzieren.

Auch beim Konsum gilt: Qualität vor Quantität. Nicht jeder Hype wird mitgemacht. Ein gut verarbeiteter Wollpullover, der Jahre hält, schlägt das Fast-Fashion-Stück von der Stange. Ein Auto muss kein Statussymbol sein, sondern sicher und verlässlich.

Lagom ist in Schweden tief verwurzelt. Es spiegelt das Leben in einer rauen Umgebung wider, in der Überfluss selten war, und wo ein kluger Umgang mit Ressourcen überlebenswichtig wurde. Es ist keine moderne Erfindung, sondern ein Ergebnis von Jahrhunderten, in denen die Menschen verstanden haben, dass das Gleichgewicht in der Gemeinschaft das Überleben sichert. Aber Lagom ist mehr als ein Relikt der Vergangenheit. Es hat eine Zukunft. Eine große sogar. Denn in einer Zeit, in der wir lernen müssen, wie wir mit der Endlichkeit der Ressourcen auf dieser Erde umgehen, ist es relevanter denn je.

Schweden ist ein Land, das stark von der Gemeinschaft geprägt ist. Lagom spiegelt diesen Konsens wider. Man nimmt, was man braucht, ohne dem anderen etwas vorzuenthalten. In der Arbeitswelt bedeutet das: Es gibt flache Hierarchien und flexible Arbeitszeiten. Niemand wird überfordert, aber auch nicht zum Müßiggang eingeladen. Es geht um Produktivität ohne Burnout. Meetings enden pünktlich. Pausen sind selbstverständlich. Die Work-Life-Balance ist keine Floskel, sondern Realität.

Genuss hat im Kontext von Lagom nichts mit Maßlosigkeit zu tun. Ein Stück schwedischer Schokoladenkuchen (oder kladdkaka, wie die Schweden ihn nennen) wird nicht in Massen gegessen, sondern mit Genuss. Es geht nicht darum, sich zu übersättigen, sondern um das Ritual des Moments. Auch das ist Kunst. Eine sehr skandinavische.

Minimalismus bedeutet hier nicht, auf alles zu verzichten. Stattdessen bedeutet es, genau das zu genießen, was man hat – und das in einer Qualität, die Wert hat. Es gibt keine fixe Formel, aber es gibt ein Ziel: „Das genau richtige Maß“ finden. Nicht zu viel, nicht zu wenig. Nicht zu heiß, nicht zu kalt. Nicht zu laut, nicht zu leise.

Lagom spiegelt nicht nur die skandinavische Kultur wider, es ist eine Lebensphilosophie, die überall Anwendung finden kann. Denn das richtige Maß ist universell. Es geht darum, zu erkennen, wann genug genug ist – ob beim Konsum, in der Arbeitswelt oder im Umgang mit unseren Mitmenschen.

Aristoteles formulierte das Konzept des „Mesotes“ – das rechte Maß zwischen Extremen. In seiner Ethik stellte er die These auf, dass Tugenden stets zwischen zwei Lastern liegen: Der Mut etwa zwischen Feigheit und Übermut. Dieses Denken korrespondiert stark mit der Idee von „Lagom“.

Das Prinzip der Ausgewogenheit, das auch wir gut gebrauchen könnten, mag in einer Welt der ständigen Steigerung wie eine radikale Idee klingen. Doch in Wirklichkeit ist es nichts anderes als ein Ausweg aus dem Hamsterrad. Wer immer nur nach mehr strebt, hat irgendwann den Überblick verloren, wofür er eigentlich lebt. Lagom ruft uns dazu auf, innezuhalten, tief Luft zu holen und die Frage zu stellen: „Brauche ich wirklich mehr?“

Lagom – Maßstab für die Zukunft

In einer Welt, die am Rande des Überflusses zu kollabieren scheint, in der Klimakrise und soziale Ungleichheit immer deutlicher werden, könnte „Lagom“ als Modell dienen, um das eigene Konsumverhalten und den Umgang mit Ressourcen zu überdenken. Ein nachhaltigerer, maßvoller Lebensstil wird zunehmend notwendig. Statt immer nach dem nächsten großen Ding zu jagen, könnte „genug“ tatsächlich das Ziel sein.

„Lagom“ bedeutet aber nicht nur, weniger zu verbrauchen, sondern intelligenter zu leben. Nicht das Maximum zu wollen, sondern das, was wirklich nötig ist. Und was nötig ist, das hat sich schon bei den Griechen gezeigt: Ein nachhaltiger Lebensstil, der nicht von Exzessen lebt, sondern von bewussten Entscheidungen.

Auch wenn „Lagom“ schwer zu definieren ist und oft als abgedroschenes Klischee erscheint, hat es dennoch eine tiefe Weisheit, die über reine Oberflächlichkeiten hinausgeht. Es zeigt uns, dass das Streben nach Ausgewogenheit vielleicht das Schwierigste – aber auch das Wertvollste – im Leben ist.

Lagom ist keine statische Regel, es ist eine Kunst. Eine Einladung zur Achtsamkeit. In einer Welt, die von Extremen lebt, ist es eine leise, aber eindringliche Stimme, die uns daran erinnert, dass das Leben mehr ist als alles oder nichts. Es ist der goldene Mittelweg, der uns nicht zu viel und nicht zu wenig bietet – sondern genau das Richtige. Lagom.

Wann hast du das letzte Mal die Würze in deinem Leben abgeschmeckt?
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