
„Die Sprache ist die Kleidung der Gedanken“, schrieb Samuel Johnson. Im Fall des „Du“ und „Sie“ scheint es, als hätten wir es mit einem kompletten Kleiderschrank gesellschaftlicher Verhaltensmuster zu tun – von der legeren Alltags-Vertrautheit bis zum steifen Gesellschaftsanzug der Förmlichkeit.
Von Småland in die Welt
An der Kasse bei IKEA in Älmhult: „Hej, vill du ha en påse?“ (Möchtest du eine Tüte?), fragt die Kassiererin mit der Selbstverständlichkeit eines Menschen, für den diese Frage so natürlich ist wie das Atmen. Siebenhundert Kilometer südlich, in einer deutschen IKEA-Filiale, löst genau dieses „Du“ regelmäßig Irritationen aus. „Ich kaufe hier doch nur ein Regal, wir sind keine Freunde“, heißt es dann etwa in den Kommentarspalten.
Die stille Revolution des Du
Die „Du-Reformen“ der 1960er Jahre begann an einem ungewöhnlichen Ort: im schwedischen Reichsversicherungsamt. An einem Herbstmorgen 1967 betrat Direktor Bror Rexed den überfüllten Konferenzraum und verkündete: „Sehr geehrte Mitarbeiter, ich schlage vor, dass wir uns alle duzen.“ Ein Moment, der die schwedische Gesellschaft nachhaltig verändern sollte.
Das formelle „Ni“ war erst im 19. Jahrhundert als Nachahmung deutscher Höflichkeitsformen eingeführt worden – ein sprachlicher Importartikel, der nie richtig heimisch wurde. Die Reform fiel in eine Zeit des Umbruchs: Das Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit hatte eine neue Mittelschicht hervorgebracht, die Gesellschaft modernisierte sich.
In den Universitäten, Betrieben und auf den Straßen wurde das steife „Ni“ zunehmend als Relikt einer überholten Klassengesellschaft empfunden. Eine Studentin erinnert sich: „Plötzlich duzten wir unsere Professoren. Es fühlte sich an wie ein Befreiungsschlag.“
Alltägliche Begegnungen
Wartezimmer einer Stockholmer Arztpraxis, 2024. Dr. Anna Lindström ruft ihre nächste Patientin auf: „Hej Ingrid, wie geht es dir heute?“ Die 78-jährige Patientin beschreibt ihre Beschwerden – per Du, aber mit spürbarem Respekt. „Das ‚Du‘ schafft Vertrauen“, erklärt Dr. Lindström. „Gerade bei älteren Patienten merke ich, wie die sprachliche Augenhöhe hilft, Ängste abzubauen.“
An schwedischen Universitäten diskutieren Erstsemester mit Professoren auf Augenhöhe. „Das ‚Du‘ öffnet den Raum für echten akademischen Diskurs“, sagt Professor Anders Nilsson von der Universität Uppsala. „Wer eine andere Meinung vertritt, muss nicht erst sprachliche Barrikaden überwinden.“
Die Grenzen des Du
Entgegen mancher Klischees kennt auch der Norden seine förmlichen Momente. Im Stockholmer Schloss herrscht das „Ni“ – wenn König Carl XVI. Gustaf empfängt, wäre ein „Du“ deplatziert. Auch in Gerichtsverhandlungen, bei diplomatischen Anlässen oder in besonders förmlichen Schreiben an Behörden hält sich eine gewisse sprachliche Distanz.
„Das ‚Ni‘ ist wie ein linguistischer Festanzug – man bewahrt ihn im Schrank für besondere Anlässe, aber man lebt nicht darin“, bemerkt der Sprachwissenschaftler Lars Eriksson.
Die neue Arbeitswelt und ihre Widersprüche
In deutschen Startup-Hubs und internationalen Unternehmen wird das „Du“ zunehmend zur Pflicht. „Wir sind hier alle per Du, das ist Teil unserer offenen Unternehmenskultur“, verkünden Führungskräfte – oft in einem Ton, der keinen Widerspruch duldet. Eine Ironie, die nicht überhört werden sollte: Ausgerechnet das zwanglose „Du“ wird zum Zwang.
„Sprache schafft Wirklichkeit. Wenn wir uns duzen, schaffen wir Nähe. Wenn diese Nähe verordnet wird, schaffen wir Misstrauen.“ – Wolf Lotter
Besonders deutlich wird die Ambivalenz in Kündigungsgesprächen. „Tut mir leid, Thomas, aber wir müssen uns von dir trennen.“ Klingt das weniger hart als die Sie-Form? Oder macht die aufgezwungene Nähe die Situation sogar noch unangenehmer?
Die Kunst der Balance
Respekt ist keine Frage der Anrede, sondern der Aufmerksamkeit. Die Kunst liegt in den Nuancen: Ein förmlicherer Tonfall, die Verwendung von Titeln trotz „Du“, kleine sprachliche Gesten der Anerkennung. Es ist wie ein Tanz, man kann Nähe und Distanz auch ohne das sprachliche Korsett des ‚Sie‘ regulieren.
Was in Skandinavien über Jahrhunderte organisch gewachsen ist – diese selbstverständliche sprachliche Gleichheit – lässt sich nicht einfach transplantieren. Die „Du-Reform“ der 1960er Jahre in Schweden fiel auf fruchtbaren Boden einer Gesellschaft, die Gleichheit nicht nur propagierte, sondern lebte.
Vielleicht liegt die Weisheit in der nordischen Gelassenheit: Das „Du“ ist dort weder Statement noch Strategie – es ist einfach. Diese Selbstverständlichkeit lässt sich nicht importieren, aber sie kann inspirieren. In einer Welt, die nach neuen Formen des Miteinanders sucht, könnte sie wertvolle Impulse geben.
Warum ich dich duze?
Weil dieses Du eine Einladung ist. Eine Einladung zum gemeinsamen Nachdenken, zum Entdecken, zum Dialog auf Augenhöhe. Nicht als Marketing-Strategie oder falsche Vertraulichkeit, sondern als bewusste Entscheidung für eine Form der Begegnung, die mir nordisch vertraut und für VÄRDE passend erscheint.
In welchen Situationen ist dir ein „Du“ oder ein „Sie“ unangenehm? Und warum?
Was verrät dein Unwohlsein mit einer Anrede über dich selbst?
Kennt dein Du auch Grenzen?
Distanz kann man messen. Nähe auch?
Related Posts
Joulupukki: Der echte Weihnachtsmann
Vielleicht ist es kein Zufall, dass sich der Weihnachtsmann ausgerechnet hier niedergelassen hat, am Rand der…
Vom Wert, einen Tomte zu haben
Die Geschichte der Kriegerin von Birka wird verfilmt. An diesem Morgen füllt sich das alte Studio in der Järnvägsgatan.…
Lucia, die Überwindung der Dunkelheit
When you are alone for days or weeks at a time, you eventually become drawn to people. Talking to randos is the norm.…